P3 7-8/2023 de

Was bedeutet eigentlich ...

Enterprise Resource Planning

Bildungslücke

 

Viele der unzähligen Schlagworte, Systeme, Frameworks, Konzepte, Schnittstellen, Versionierungen, Programmiersprachen usw. usf., die täglich auf uns einprasseln, existieren nicht, weil sie unbedingt gebraucht werden, sondern lediglich, weil sie möglich sind. Und viele Züge, auf die man allzu eilig aufgesprungen ist, weil sie als das Wundermittel auf Jahrzehnte angepriesen wurden, erreichten in Folge nicht einmal den nächsten Bahnhof, sondern entpuppten sich als Schimäre – geschaffen nur zur kurzfristigen Befriedung von Hybris und Brieftasche ihrer Erfinder.

Das ist hier anders.

Theoretisches

Unter Enterprise Resource Planning (ERP) versteht man (inzwischen) die massiv softwaregestützte, bedarfsgerechte Planung, Steuerung und Verwaltung aller betrieblichen Ressourcen im Sinne einer steten Optimierung des Wertschöpfungsprozesses hinsichtlich seiner Effizienz. Zu den Ressourcen gehören Personal, Kapital, Material, Betriebsmittel sowie auch die Informations- und Kommunikationsstruktur des Unternehmens. ERP erstreckt sich damit über die folgenden Bereiche:

  • Materialwirtschaft (Beschaffung, Lagerhaltung, Disposition),
  • Produktion bzw. Produktionsplanung und -steuerung,
  • Bedarfsermittlung,
  • Finanz- und Rechnungswesen,
  • Controlling und Risikomanagement,
  • Personalwirtschaft,
  • Forschung und Entwicklung,
  • Verkauf und Marketing,
  • Stammdatenverwaltung,
  • Stückliste,
  • Produktdatenmanagement,
  • Dokumentenmanagement,
  • Disposition und
  • Customer Service

Die Integration all dieser Bereiche ist ohne grundlegende und umfangreiche Software-Unterstützung nicht zu bewältigen. Zur Digitalisierung des Ressourcen-Managements kommen daher Software-Anwendungen zum Einsatz, die folgerichtig als ERP-Systeme bezeichnet werden. Auf dem Markt existiert eine Vielzahl an Anbietern solcher Systeme, wobei SAP, Oracle, Sage, Microsoft und Infor zu den prominentesten und umsatzstärksten Namen gehören. ERP-Systeme unterscheiden sich primär hinsichtlich Einsatzgebiet (Branche), Funktionsumfang, Skalierbarkeit und der verwendeten Technologien und Plattformen. Ein wesentlicher Vergleichsparameter können außerdem auch Investitions- und Folgekosten sein. Die Einführung eines ERP-Systems im Unternehmen ist ein strategischer Schritt, dem eine umfangreiche Evaluierung vorausgehen sollte. In Erwägung ziehen sollte man ihn, wenn es dem Unternehmen möglichst gut geht – nicht, wenn es sich in einer Krise befindet, die personelle Ressourcen und liquide Mittel bereits verknappt. Hinsichtlich seiner Komplexität ist ein solches Projekt jedenfalls unternehmenskritisch.

Soweit zur Theorie.

Historisches

Grundsätzlich gibt es ERP-Systeme bereits seit mehreren Jahrzehnten. Als ich studierte, kam der Begriff gerade ein erstes Mal groß in Mode. Hochschuleinrichtungen im noch jungen Spannungsfeld zwischen Betriebswirtschaft und Informatik legten mehr oder minder ausdetailliert die theoretischen Konzepte solcher Systeme vor, und zum ersten Mal schienen die am Markt erhältlichen PC- und Serversysteme sowie die zwischengeschalteten Netzwerke über die erforderlichen Ressourcen zu verfügen, um die Implentierung in einem sinnvollen Umfang möglich zu machen. Das gelang anfangs mit begrenztem Erfolg; nicht selten ging der größere Teil an Speicher- und Rechenleistung dafür drauf, die grafischen Benutzeroberflächen auf die Monitore zu zaubern, statt eine konsistente Datenhaltung und -manipulation zu ermöglichen. Zur Behebung der häufigen Systemabstürze – samt Datenverlusten im großen Stil – wurden anfangs noch ganze Teams gebraucht, die oftmals unzureichend geschult waren und kaum über die erforderlichen Kontakte zu den eigentlichen Entwicklern verfügten. Oder gar nicht erst existierten.

Natürlich hat sich seither vieles verändert; vor allem aber hat die Komplexität im ökonomischen Umfeld zugenommen – in einem Maße, in dem die verfügbaren Systeme mit der Abbildungstreue kaum noch hinterherkommen.

Standardprozesse und Risiken

ERP-Systeme bringen für übergreifend unternehmenstypische Standardprozesse üblicherweise fertig implementierte Abläufe mit. Bestehende Strukturen müssen im Zuge eine Systemeinführung an diese – oftmals in völliger Fehleinschätzung als business excellence deklarierten – Prozesse angeglichen werden. Das kann einerseits böse Schwachstellen in den bestehenden Abläufen und Prozessschnittstellen aufdecken, birgt andererseits aber auch Konflikt- und Frustpotenzial. Nicht alles, was vorher anders war, muss automatisch schlechter gewesen sein. Gerade bei der Standardisierung und Rationalisierung von Prozessen im Zuge einer Software-Umstellung werden Mitarbeiter oftmals zu rein maschinell gedachten Produktionsfaktoren degradiert. Der Gedanke, dass auch alltägliche Abläufe eine individuelle, positive Note haben können, ist in ERP-Systemen oft nicht vorgesehen – weil er bereits in den Köpfen der Entwicklungsteams und unzähligen senior consultants nicht vorgesehen ist. Ich persönlich halte das übrigens nicht zuletzt für einen Mangel in der theoriegebundenen, oftmals zu engstirnigen universitären Ausbildung.

Kernprozesse und Risiken

Noch aufregender wird es ohnedies erst beim tailoring, also der Anpassung des Systems an die eigentliche Kernkompetenz des Unternehmens oder Konzerns. Die Ablöse und inhaltliche Abdeckung bestehender Insellösungen (oftmals ohne ausreichendes Hinterfragen; viele Sonderwünsche fluktuieren mit den persönlichen Bedürfnissen und Arbeitswelten einzelner Mitarbeiter und sind somit historisch gewachsen) und die möglichst lautlose, weitgehend unterbrechungsfreie Integration in den laufenden Betrieb münden nach einer meistens viel zu kurzen und von den Projektverantwortlichen wie auch der Geschäftsführung sträflich unterschätzten Planungsphase häufig in eine Vielzahl kostspieliger Individualprogrammierungen, welche über die Zeit erhebliche Folgekosten (Wartungen, Erweiterungen, Kompatibilität etc.) verursachen. Diese Arbeiten dauern immer länger als veranschlagt und finden daher oft unter Zeitdruck statt, was sich in drei typischen Problemen niederschlägt: Zuwenig direkter Kontakt mit den tatsächlichen Anwendern vor Ort; mangelnde oder keine Dokumentation; völlig unzureichende Praxistests. Gerade bei konzern- oder zumindest standortweiten Einführungen großer ERP-Systeme ist Stillstand daher sicherheitshalber einzuplanen. Praktische Erfahrungen zeigen, dass diese Stillstandszeiten von wenigen Wochen bis hin zu mehreren Monaten reichen können – existenzkritische Zeiträume, in denen häufig riesige, nicht abgeglichene Datenmengen anfallen, sei es durch Excel-Listen oder sogar handgeschriebene Notizen auf allem, was irgendwie nach Papier aussieht. Denn grundsätzlich besteht bei den Mitarbeitern eines Unternehmens der Wille, den Geschäftsbetrieb auch in einer solchen Phase so gut wie möglich am Laufen zu halten – jedenfalls zu Anfang. Diese Phasen können in Folge schnell zu physischer und psychischer Überlastung führen – auch ein Faktor, den Verantwortliche ungern wahrhaben wollen – und natürlich wirken sie sich grob negativ auf eben jene Planungs- und Datenqualität aus, die man eigentlich verbessern wollte. Dennoch ist die Komplexität innerbetrieblicher Abläufe auf einem Markt mit globalen Abhängigkeiten inzwischen so enorm, dass in den meisten Fällen keine brauchbaren organisatorischen Alternativen existieren. Die vollständige Individualentwicklung eines ERP-Systems ist vom Mittelständler an aufwärts immer wieder versucht worden; führt man sich jedoch vor Augen, dass eine solche Aufgabe ganze Teams an Entwicklern und Analysten über mehrere Mannjahre hinweg bindet, ist der Sinn eines solchen Unterfangens von vornherein völlig zu Recht in Frage gestellt.

Kritische Bemerkung

Unter dem Strich bleibt häufig der Eindruck, dass heutige ERP-Systeme ihre Existenz hauptsächlich damit rechtfertigen (müssen), die zunehmende Komplexität betrieblicher Abläufe in den Griff zu bekommen und auf für den Anwender überschaubare Blöcke herunterzubrechen. Sie wirken damit in erster Linie nur noch einer Verschlechterung entgegen, sind für den Endbenutzer dabei aber häufig kaum mehr als eine Wand mit immer kleineren Gucklöchern. Daran kann auch eine Vielzahl bunter, in ihrer Bedeutung oft missverstandener Management-Reports nichts ändern. Beherrschbarkeit, Datenkonsistenz über alle Unternehmensbereiche hinweg und letztliche der (nahezu) optimale Ressourceneinsatz bleiben vielfach Sollzustände. Das tatsächliche Verbesserungs- oder gar Entlastungspotenzial, das ursprünglich im Vordergrund stand, ist m.E. – auch wenn das wohl niemand zugeben mag – wenig mehr als ein hedonistisches Ideal, das der momentanen Realität kaum standzuhalten vermag. Meine persönliche Einschätzung ist allerdings auch, dass der Einsatz von AI hier in den nächsten ein bis zwei Jahrzehnten für einen Strukturwandel sorgen wird – wenngleich mir die Richtung noch unklar scheint.

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